Die Kartoffelsucherin

von Rosalinde Pilsner

Es war ein sonniger aber kühler Frühlingstag, als sich Rosalie und Edward aufmachten, um in der Lüneburger Heide etwas Entspannung zu finden. Solche Ausflüge unternahmen sie an vielen Wochenenden, um der Großstadt zu entfliehen.

Rosalie arbeitete als Aufseherin in einem Mädcheninternat und Edward als Landvermesser für Liegenschaften der Stadt. Er war von kräftiger Statur. Nichts deutete auf Probleme mit dem Herzen hin; und doch hatte er vor Jahren eines gebrochen. Daran verschwendete Edward allerdings keinen Gedanken, als er das dunkelrote Bentley Cabrio durch ein Meer blühender Rapsfelder in Richtung Heide steuerte.

"Diese buttergelben Boten des Frühlings finde ich einfach herrlich!", bemerkte seine Verlobte Rosalie vom Beifahrersitz. Beide hatten beschlossen, ihre in zwei Wochen bevorstehende Hochzeit einem Weddingplanner anzuvertrauen. So blieb das Paar von den stressigen Vorbereitungen für die Feier verschont und konnte sich stattdessen erholen.

Die Kieselsteine knirschten unter den Reifen, als Edward mit dem Bentley in die Einfahrt des Kastanienhofs einbog. Es war ein alter Bauernhof, umgebaut zu einem Landhotel.

Eine frühe Geranie trug eine Krone aus winzigen Knospen. Hohe Hecken säumten das Gelände und gelegentlich gaben alte Holzzäune den Blick auf die Landschaft frei, die Rosalie sehr genoss.

Edward parkte den Bentley und wuchtete zwei schwere Koffer aus dem Heck. Das Paar schritt vom Parkplatz über den Kastanienhof, um sich beim Personal anzumelden.

Just als Edward die Klinke berührte, öffnete jemand die Eingangstür von innen. Eine Frau blieb im Türrahmen stehen und blickte Edward erstaunt an. Ihm genügte eine halbe Sekunde, um sie wiederzuerkennen. Beide ließen sich nichts anmerken und gingen stumm aneinander vorbei.

Rosalie hingegen bemerkte das Erschrecken ihres Verlobten genau und stoppte ihn mit einem Griff an den Arm.

"Kennst du diese Frau, Edward?"
Edward: "Nein, nein."
Rosalie: "Ich sehe es dir doch an!"
Edward: "Es ist 20 Jahre her. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie es war."
Rosalie: "Wer denn, zum Teufel?"
Edward: "Gehen wir weiter. Ich erzähle es dir später."

Beide meldeten sich als Gäste im Kastanienhof an und bezogen ihre Zimmer. Die viktorianischen Möbel des Hauses schloss Rosalie sofort ins Herz. Auch an einen frischen Blumenstrauß auf dem Zimmer war gedacht. Rosalie erfreute sich an diesen Kleinigkeiten; sie ließen keinen Zweifel an der guten Adresse des Kastanienhofs.

Nachdem die Koffer ausgepackt und alle Sachen verstaut waren, wollte Rosalie unbedingt das Kaminzimmer besuchen, das sie von Werbefotos kannte. Sie freute sich auf die mit Chintz bezogenen Polstersessel und den offenen Kamin. In dieser Atmosphäre würde sie Edward leicht dazu bringen, von der geheimnisvollen Begegnung zu erzählen.

Das Paar verließ das Zimmer; sie schritten die Treppe hinab und durchquerten den Flur des Bauernhauses, der mit alten Dielen ausgelegt war.

Es war Nachmittag und beim ersten Blick ins Kaminzimmer wirkte es dunkel und verlassen. Rosalie war enttäuscht. Sie hatte sich gefreut, das Feuer im Kamin zu beobachten und die knisternden Flammen zu hören, wie sie das Holz umspielen. Doch der Ölherd in der benachbarten Küche blubberte friedlich vor sich hin, so dass trotzdem alles herrlich warm war.

Elizabeth, die Hausdame, machte Licht im Kaminzimmer und entzündete eine Lavendelkerze. Rosalie und Edward bestellten einen Tee und ließen sich in die gemütlichen Sessel nieder.

Rosalie: "Nun erzähl mir, woher du die Frau von vorhin kennst."
Edward: "Ich glaube, es war die Kartoffelsucherin."
Rosalie: "Ach du meine Güte, das klingt wie eine Hexe."

Edward: "Nein, nein, hier auf dem Land ist es eine normale Beschäftigung. Im Herbst, während der Kartoffelernte. Wenn die Dämmerung einsetzt und die Landwirte mit ihren Maschinen die Felder verlassen, dann kommen die Kartoffelsucher. Sie klauben auf dem Acker zusammen, was von den Maschinen zurückgelassen wurde. Matilda hat jede Woche mehrere Säcke nach Hause geschleppt."

Rosalie zog die dicke Strickjacke enger um sich: "Matilda. Was für ein lächerlicher Name."
Edward: "Darling, du musst mir glauben, es ist 20 Jahre her. Ich kannte sie kaum."
Rosalie: "Aber ich habe ihren Blick gesehen. Offenbar kennt sie dich noch immer sehr gut."
Edward wich dem Vorwurf aus: "Ich bin hungrig. Komm, lass uns etwas Leckeres essen."

Rosalie wollte die Unterhaltung jetzt nicht unterbrechen, doch die Aussicht auf frischen Spargel mit Schinken und Heidekartoffeln stimmte sie milde. Schließlich waren sie in den Kastanienhof gekommen, um es sich vor der Hochzeit gut gehen zu lassen. Und nicht, um zu streiten. Rosalie malte sich in Gedanken ihre Trauung aus: ganz in Weiß und mit Brautjungfern - diesen Traum würde sie sich von einer Matilda nicht vermiesen lassen.

Als Edward und Rosalie vom Kaminzimmer in das Esszimmer wechselten, wurden sie von einem Hauch eisiger Kälte umhüllt, die aus den Steinplatten des Fußbodens emporstieg und ihnen die Beine hinaufkroch. Hausdame Elizabeth deckte einen Tisch für Zwei ein und empfahl das Tagesgericht: Spargel mit Bratkartoffeln und Speck. Eigentlich stand Rosalie der Sinn nach Spargel mit Salzkartoffeln - doch sie war neugierig und bestellte für sich und Edward das Pfannengericht mit Bratkartoffeln.

Elizabeth servierte zwei reichliche Portionen und wünschte einen guten Appetit.

"Schmeckt es dir, Darling?", fragte Rosalie unverfänglich. Sie wollte das vorhin unterbrochene Gespräch wieder aufnehmen, um mehr über Edwards Verhältnis zu Matilda zu erfahren.

Edward: "Ein bisschen stark angebraten, aber ich liebe die Röstaromen mit der feinen Note des Spargels."
Da platzte es aus Rosalie heraus: "Und Matilda? Habt ihr euch auch geliebt?"
Edward: "Wie kommst du denn darauf? Niemals, das musst du mir glauben, Rosalie!"
Rosalie schluchzte: "Aber woher kennst du eine Kartoffelsucherin? In solchen Kreisen verkehrst du doch nicht, Edward. Wir kaufen unsere Lebensmittel auf dem Wochenmarkt und lesen sie nicht vom staubigen Ackerboden auf."

Edward spürte den Zwang, sich jetzt zu erklären. Er nahm einen weiteren Bissen Bratkartoffeln und begann: "Schau, Liebling, als ich damals das Voltigieren lernte ..."
Rosalie: "... du hast es in der Lüneburger Heide gelernt. Oh Edward, jetzt wird mir einiges klar!"
Edward: "Genau, und Matilda war in der Küche des Pferdehofs als Kartoffelschälerin angestellt. Als Kartoffelsucherin arbeitet sie ja nur im Herbst und in der restlichen Zeit des Jahres eben als Schälerin, Stampferin oder Frittenschneiderin."
Rosalie: "Was auch immer damals war: ich verlange, dass du dieser Person nie wieder begegnest."
Edward: "Sei versichert, mein ..."

Edward musste aufstoßen und fuhr fort: "... mein Schatz... ich ..." Er spürte plötzlich ein Unwohlsein, das ihm die Luft abschnitt. Edward konnte nicht sagen, woher es rührte. Er legte seine Hand auf den Bauch, fasste sich an die Stirn und an den Hals.

Rosalie bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Als ihr Verlobter zu röcheln begann und auf dem Stuhl zur Seite neigte, verfiel sie in Panik. "Elizabeth, kommen Sie schnell!", rief Rosalie mit aller Kraft hinüber zur Küche.

Die Hausdame eilte genau in dem Moment herbei, als Edward vom Stuhl stürzte und sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmte. Nachdem Elizabeth den ersten Moment des Schreckens überwunden hatte, erkannte sie die Situation und hastete ins Telefonzimmer: "Ich rufe sofort Doktor Murray!"

Rosalie kamen die Tränen vor Hilflosigkeit, denn so elend hatte sie Edward noch nie gesehen. Das waren keine Kopfschmerzen, keine Magenverstimmung, kein Schwächeanfall. Edward machte einen viel schlimmeren Eindruck, der Rosalie ins Herz schnitt.

Rosalie beugte sich hinunter, um Edward ein Glas Wasser zu reichen und ihm kühle Luft zuzufächern. Da bemerkte sie, wie sich Edwards Augen weiteten und in Richtung Tür verdrehten. Das lag jedoch nicht an den Schmerzen sondern an einer Person, die plötzlich im Esszimmer erschien.

"Matilda", schrie Rosalie entsetzt, "Verschwinden Sie. Sofort!"
Doch Matilda dachte nicht daran. Sie stieß Rosalie beiseite, kniete sich neben Edward und legte ihre Hand auf seine heiße Wange: "Oh, Edward, das wollte ich nicht."

Edward versuchte stöhnend und mit brüchiger Stimme zu antworten: "Was ... meinst ...?"
Matilda: "Ich habe dir grüne Kartoffeln untergemischt."
Rosalie war wie vom Donner gerührt: "Sie wollten meinen Mann vergiften!"
Matilda: "Der Teller war doch gar nicht für ihn bestimmt. Elizabeth hat sie vertauscht serviert. Edward, es tut mir so leid."
Rosalie: "Sie Biest! Sie wollten also mich umbringen, um wieder mit Edward zusammen zu sein."
Matilda: "Ich schäme mich ja so dafür. Edward, bitte sag, dass du mir verzeihen kannst."
Rosalie: "Gar nichts wird er verzeihen! Scheren Sie sich ... Edward, ... was ist mit dir?"

Es schien, als würde sich Edward ans Herz fassen. Seine Hände brachten die Bewegung aber nicht zu Ende.

"Lassen Sie mich durch", rief der herbeigeeilte Doktor Murray. Völlig außer Atem stellte er seinen schwarzen Koffer neben dem Patienten ab und wollte gerade das Stethoskop auspacken, als Edwards Kopf kraftlos zur Seite sank. Seine Augen schlossen sich in Zeitlupe. Doktor Murray begann sofort mit der Wiederbelebung. Edward zeigte jedoch keine Anzeichen, ins Leben zurückzukehren.

"Das ist alles nur Ihre Schuld", stöhnte Rosalie voller Machtlosigkeit und Verzweiflung. Ihre tränenverschwommenen Augen blitzten wütend gegen Matilda.
"Seien Sie doch froh, dass nicht Sie da unten liegen!", entgegnete Matilda.

"Meine Damen, streiten Sie nicht. Helfen Sie mir und übernehmen die Wiederbelebung, während ich eine Injektion Etilefrin vorbereite." Doktor Murray machte Platz und deutete mit einer Handbewegung an, dass Rosalie an seiner Stelle fortfahren solle.

Während der Arzt eine Spritze, Ampulle und Einmalhandschuhe zur Injektion vorbereitete, nahm Rosalie ihre Nerven zusammen und beugte sich über Edward, um ihn zu retten. Sie legte ihre geballten Hände übereinander auf Edwards Brust, so wie es Doktor Murray vorgemacht hatte. Dann drückte sie im Wechsel mehrfach aufs Herz und beatmete ihren Verlobten.

"Edward, so komm doch zurück...", flehte Rosalie und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Doch Edward zeigte keine Regung.

Da räumte Matilda den Stuhl beiseite, von dem Edward zu Boden gesunken war, und setzte sich auf die andere Seite des leblosen Körpers. "Jetzt versuche ich es", bestimmte Matilda, so als wüsste sie, was zu tun sei. Bevor Rosalie etwas einwenden konnte, hatte Matilda schon übernommen und führte rhythmische Druckbewegungen auf Edwards Brust aus. Als sie ihre Lippen auf Edwards Mund presste, suchte Doktor Murray gerade eine Vene an Edwards Arm, doch die Spritze war nicht mehr nötig. Plötzlich schlug Edward die Augen auf und flüsterte mit brüchiger Stimme: "Matilda" – "Edward!", erwiderte diese. "Nie habe ich deine weichen Lippen vergessen", sagte Edward und versetzte Rosalie damit einen Stich ins Herz. Matilda aber erkannte ihre Chance, endlich den Mann zu gewinnen, den sie schon immer begehrte: "Willst du mich heiraten?", fragte sie ihn. "Ja, meine Lebensretterin, ich will.", antwortete Edward.

Rosalie wusste nicht, wie ihr geschah. Schluchzend und tränenüberströmt lief sie aus dem Esszimmer hinaus ins Freie.

"Meinen herzlichsten Glückwunsch", gratulierte Doktor Murray erfreut und räumte seinen Arztkoffer zusammen. "Ließe sich doch nur jeder Patient so schnell reanimieren."


Nachwort

Die in zwei Wochen bevorstehende Hochzeit sagte Edward nicht ab. An Rosalies Stelle trat Matilda vor den Altar.

Ende